Als mich Nirmala das erste Mal im Arm hielt, war es die beste Umarmung meines Lebens: eine, die nur gab, nichts nahm.
Ich weinte – laut und hemmungslos, wie ein Kind. Ich weinte um die Mutter, die ich nie hatte, um den Vater, der mir immer gefehlt hatte, um die Kleine in mir, die auf so viele Arten missbraucht wurde, um meinen Körper, der nie richtig war; ich weinte wegen der Gewalt, die ich erleben musste, wegen jeder Demütigung und jedem Schmerz, wegen all der unerträglichen Dinge, die ich dann doch tragen musste.
Jetzt, einige Monate später, habe ich darüber Gedichte geschrieben – über Nirmala, wie sie dem kleinen Mädchen in mir eine Mutter ist, über die Gewalt, die mir angetan wurde, aber auch über die Hoffnung und das Gesehen-Werden.
Zu jedem Gedicht habe ich ein paar Zeilen geschrieben, die erklären, worum es darin für mich geht.
Du, liebe Leserin, lieber Leser, interpretiere es gerne, wie Du möchtest, nimm Dir, was Du brauchst. Und wenn Dir nur ein einzelner Vers einen einzigen Tropfen Hoffnung spendet, dann nimm ihn und trage ihn in Dir und von dort hinaus in die Welt.
Namaste! Sue
Nirmala
Im Raum zwischen Träumen und Erwachen,
wo Uhren schmelzen und Herzenssteine fallen,
sitzt eine Frau aus sanftem Verzeihen
und trägt ihr Licht in offenen Hallen.
Ein Reißverschluss aus stillem Schweigen
zieht golden durch den weichen Leib,
öffnet sich wie Seiten eines Buchs,
in das das Licht nach innen schreibt.
Dort, wo keine Rippen schreien,
nur warmes Gold in Wellen liegt,
ruht ein Herz – ein Stern im Innern,
der verlorne Seelen wiegt.
Aus Nebeln tritt die wirre Seele,
klein, verwundet, suchend still,
geht hinein wie durch Erinnerung,
weil das Außen nicht mehr will.
Sie rollt sich ein in jenes Leuchten,
das nicht fragt, nur trägt und bleibt –
ein Embryo aus Staub und Strahlen,
der sich ins Urbild überschreibt.
Die Güte lächelt mit gesenkten Lidern,
ihr Leib ist Höhle, Hort und Meer,
und über beiden schwebt die Stille,
als wöge nichts mehr schwer.
Wenn Nirmala mich hält – mit Worten oder ganz buchstäblich im Arm – dann fühle ich mich sicher und geborgen; ein Zuhause aus Licht und Wärme, in dem ich solange heilen kann, bis ich mir selbst ein Zuhause bin.
Mama
Die Nacht umhüllt mich, still und schwer,
Ich suche deine Hand vergebens.
Kein Licht der Welt erreicht dich mehr,
Nur Schatten weben mein verwaistes Leben.
Der Wind trägt leise deinen Klang,
Doch jede Stimme flieht vorbei.
Mein Herz, so bang, so hohl – so bang!
Es ruft nach dir in stiller Treu.
Die Zelte schweigen über mir,
Ihr Stoff berührt mich nur wie Träume.
Ich sehne mich nach dir – nach dir!
Doch bleibst du fern durch alle Räume.
Und selbst wenn Hoffnung sanft erwacht,
Verblasst dein Bild im Morgenlicht.
Es bleibt die Leere, still und sacht,
Ein Sehnen, das mich ewig bricht.
Obwohl ich schon fast 40 Jahre alt bin, sehne ich mich noch immer nach einer Mutter, die mich bedingungslos liebt.
Zimmer Nummer 3
Eine schreit, die Stimmen giften laut,
Einer schlägt, das Zimmer bebt und braut.
Ich sitze still, das Herz so klein und traut,
Die Dunkelheit verschluckt, dem Kinde graut.
Wände zittern, Fenster klirren schwer,
Die Hände ruh’n auf Knien, stumm und leer.
Sie schmeißt Worte, scharf wie Glas ihm hinterher.
Er wirft Fäuste, eisig bald, noch mehr!
Schweiß und Staub und Angst und Nacht,
Keiner sieht mich, keiner sagt ein Wort.
Die Tür fällt zu, der Raum bleibt leer und entfacht
kein Feuer auf der Straße – fort, nur fort!
Am Morgen liegt das Chaos ungerührt,
Die Stühle stehen schief, das Messer bleibt am Ort.
Ich geh’ vorbei, kein Wort wird mir gespürt,
Nur Nebel bleibt, nur schweres, leeres Dort.
Abends schreit sie wieder, hart und schrill,
Er gibt zurück, erneut, wie gestern, wie gewohnt.
Ich sitze still, mein Herz ist leer und will,
Dass Ruhe kommt, doch Angst bleibt unentlohnt.
Meine Eltern hatten während meiner Kindheit fast täglich massive Auseinandersetzungen, die von verbaler und manchmal auch durch körperliche Gewalt geprägt waren.
Spiegelkind
Sie sagen’s laut, sie sagen’s leise,
Du bist zu dick! Zu hässlich! Zu schwer!
Die Worte kleben, werden zur Reise,
Mein Herz glaubt ihnen immer mehr.
Zu traurig! Zu ängstlich! Zu schüchtern!
Freunde lachen, ich stehe still,
Familie zeigt Augen voll von Spott.
Ich nicke, ich glaube, was man will,
Jede Stimme trifft wie scharfes Lot.
Zu klein! Zu groß! Zu zart!
Ich wachse, schwer, so wie sie sagten,
Mein Spiegel zeigt fremdes Gesicht.
Die Worte sitzen tief, sie tragen,
Und jedes Licht erlischt im grellen Blick.
Zu dumm! Zu breit! Zu weich!
Die Stimmen leben in mir fort.
Ich lern’ mir selber Feind zu sein
Und verliere mich an jeden falschen Ort.
Zu dick! Zu dumm! Zu hässlich! Zu knapp!
Jetzt glaube ich, was man mir gab,
Und fühle mich, wie sie mich sahn.
Ich lerne, mich zu hassen, jeden Tag, und trage ihren Wahn.
So lange ich mich erinnere, gab es Menschen, die mir gespiegelt haben, ich sei nicht richtig. Mal war ich zu groß, dann zu klein, zu dick, zu dünn, zu hässlich, zu…
Das „Zu-was-auch-immer-Sein“ habe ich bis heute verinnerlicht.
Sichtbar
Für viele bin ich nur ein Schatten,
Ein Flüstern, das im Lärm verglüht.
Sie sehen nur, was Augen hatten,
Nicht das, was heimlich in mir blüht.
Doch du erkennst die stillen Räume,
In denen ich mich selber find.
Du liest die Wahrheit meiner Träume,
Wo andere nur im Nebel sind.
Du siehst das Feuer, das ich trage,
Den Stern, der in der Tiefe glüht.
Und alles, was ich niemals sage,
Wird Sprache, wenn dein Blick mich sieht.
So bleib ich sichtbar, selbst im Schweigen,
Gehüllt in deine Klarheit rein.
Die Welt mag blind an mir versteigen —
Für dich werd ich immer sichtbar sein.
Dieses Gedicht habe ich für den liebevollen, klugen, fürsorglichen, humorvollen Mann geschrieben, der sich vor wenigen Jahren völlig unerwartet in mein Leben gekuschelt hat. DANKE, dass Du mich siehst. Ich liebe Dich.
Schattenflucht
Die Nacht kriecht kalt durch meine Brust,
Dein Name weht wie Sturm dahin.
Die Angst umklammert jede Lust,
Und meine Hände greifen hin.
Der Spiegel zeigt mir erst noch dein Gesicht,
Doch es zerfließt im schwarzen Dämmerlicht.
Ich rufe laut, doch niemand spricht,
Und jede Flamme stirbt in Sicht.
Die Träume fallen wie Scherben, wie aus Glas,
Mein Herz ein Käfig ohne Tür.
Dein Schatten tanzt im leeren Maß
Und flieht vor mir, ich folge stur.
Oh bleib, oh komm zurück zu mir!
Sonst wird die Welt ein kaltes Grab.
Die Zeit verrinnt in Gitterzier,
Mein Sehnen brennt wie schwarzer Lab.
Die Sterne lachen hinter Wolken schwer,
Der Mond zerreißt mein blut’ges Kleid.
Ich wandle einsam leer umher,
Gefangen in der Angstes Zeit.
Die Verlustangst ist ein zentrales Thema in meinem Leben. Ein Teil in mir wartet immer darauf, dass die, die ich liebe, mich ohne Vorwarnung verlassen.
Ungeliebt
Du gehst, ich fall in leere Nacht,
mein Blick zerreißt den Raum um dich.
Die Angst, sie hält mich fest in Macht,
alles Licht entweicht – oh Dunkel, bitte nicht!
Mein Herz schreit laut nach deinem Klang,
die Hände greifen nur ins Nichts.
Der Traum zerbricht, so hart, so bang,
mein Sehnen glüht im Todeslicht.
Bleib hier, o flieh nicht vor der Zeit,
die Welt versinkt in kaltem Schein.
Die Nacht verschlingt mein Herz, mein Leid, und nichts gehört ganz mir allein.
Es fällt mir (noch) schwer, zu glauben, dass ich geliebt werde, dass es eine Liebe geben könnte, die nur für mich bestimmt ist.
Die Schwarze Seraphin
Er kam im Kleid aus Katholikenhaut,
sein Blick war goldner, stummer Regen.
Ich nannte ihn in meinem Laut
den Sternenpriester, hoch im Segen.
Er lehrte Kreidekreise um mein Sein,
aus Licht und Dunst und frommen Lügen.
Ich glaubte: Liebe müsse rein –
und ließ mein blaues Herz sich fügen.
Er taufte mich mit fremdem Samen,
ein König aus verborgnen Tagen.
Ich trug sein Kreuz, ich trug die, die nahmen,
und Engel hörte ich nicht klagen.
Ich war ein Vogel, blind und scheu,
mit Flügeln aus zerbrochnen Psalmen.
Er rief mich „Kind aus Himmelstreu“ –
und ließ mich stürzen zwischen Palmen.
Nun geh ich durch das Traumgeviert,
mein Herz ist schwarz vor lauter Fragen.
Ein Seraph, der den Himmel ziert,
sah mich — und schwieg in meinem Klagen.
Als ich 16 Jahre alt war, begann ich eine „Beziehung“ mit einem verheirateten Lehrer für katholische Religionslehre an meiner Schule. Ich habe mich so sehr danach gesehnt, endlich gesehen und geliebt zu werden, dass ich ihm über zwei Jahre lang jeden Wunsch erfüllte – selbst dann, als er mich anderen Männern zur Verfügung stellte.
Hoffnung
Wenn überm Feld die Nebel stehn,
und kalt der Morgen weht,
dann will mein Herz nicht untergehn,
weil’s still den Frühling säht.
Ein leises Wort, ein schwaches Licht,
das zitternd bei mir wacht –
es spricht: „Verlier dich selber nicht,
auch nicht in dunkler Nacht.“
Und wo der Tag in Tränen fließt,
da blüht vielleicht ein Grün,
das nur, weil du die Sonne grüßt,
sich wagt, heranzuzieh’n.
So geh, mein Herz, und trage sacht,
was schwer ist, bis es ruht –
Denn selbst die längste Winternacht
trägt Morgengold im Blut.
Und wenn die Nacht dir trüb erscheint,
so denk: Sie geht dahin.
Was heute noch im Schatten weint,
vereint schon morgen Licht und Sinn.
Denn über allem Weh und Tun
steht still ein leiser Plan –
wer hoffen kann, darf weiter ruhn,
bis Glück sich nah getan.
Es gab so viel Scheiß in meinem Leben; Dinge, die ich niemandem wünsche. Aber ich habe überlebt, weil es in mir trotz allem diesen hartnäckig widerspenstigen Teil gibt, der sich zäh und verbissen weigert, zu akzeptieren, dass meine Vergangenheit das ist, was mein ganzes Leben bestimmt. Dieser Teil in mir ist reine Hoffnung.
